Christian Gieraths

 

 

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Eröffnungsrede: Dr. Maria Müller-Schareck, Kuratorin, Kunstsammlung NRW

Christian Gieraths. Salaam Bombay, 28. Juni 2011, Baukunst Galerie, Köln


Pastime Paradise, so nennt Christian Gieraths die Fotografien, die er zwischen
2006 und 2009 in Kalifornien und Nevada, in den im äußersten Nordosten
gelegenen Staaten Amerikas – Idaho, Montana, Nevada und Washington –
sowie in Florida aufgenommen hat. Als Paradiese vergangener Zeiten zeigen
diese großformatigen Farbfotografien Orte menschlicher Versammlung,
Fassaden und Gebäude, die das Bild der Städte prägen und denen die Zeichen
des Verfalls eingeschrieben sind. Das Reisen, das Erkunden und Erfahren
fremder Orte, ist eine Grundbedingung der künstlerischen Arbeit von Christian
Gieraths. Ausgehend von Münster, wo er studierte, führten ihn diese Reisen
ans Schwarze Meer – nach Sotchi und Odessa – später nach Tokyo, Cape
Town, nach Havanna und Bukarest und schließlich nach Mumbai, dem
früheren Bombay (1996).


„Reisende“ beschreibt Roger Willemsen in seinem Buch „Die Enden der Welt“
...[als] Auf-dem-Weg-Seiende. Ihre Bewegung verwandelt Orte in Schauplätze.
Sie kommen an, sehen sich um, beobachten Menschen dabei, wie sie in
fremden Räumen sich und andere bewegen, und schon dieser Blick verfremdet
die Fremde. Alle hier Lebenden sind Geschichte und schleppen ihre Geschichte
durch den Raum. Nur der Reisende ist reine Gegenwart, nur er sieht die Stadt
in ihrem Jetzt.“ Die Bilder, die Christian Gieraths in sechs Monaten gesammelt
hat, zeigen solche Jetzt-Zustände: die Kinosäle, Straßen, Hausfassaden oder
Müllberge einer Megastadt, gesehen durch Augen, die sich fremd fühlten und
umso offener waren für die verborgene Schönheit dieser Stadt, die der Fotograf
– das signalisiert der Titel der parallelen Ausstellung in der Fuhrwerkswaage –
auch als Hölle erlebte.


Ein halbes Jahr konnte Christian Gieraths im Rahmen eines Stipendiums der
Kunststiftung NRW in Mumbai leben, einer Stadt der Superlative: es ist nicht
nur die größte Metropole Indiens, sondern auch eine der größten der Welt, das
indische Zentrum des Handels und der Unterhaltungsindustrie. Denen, die noch
nicht da waren, hat Danny Boyle’s gefeierter Film „Slum Dog Millionär“
vielleicht eine vage Vorstellung gegeben von der Buntheit, der Überfülle, der
Lautstärke und dem Dreck dieses Molochs, der magnetisch und pausenlos neue
Bewohner anzieht. Diese Stadt hat sich Christian Gieraths von zentralen
Punkten aus erschlossen, dabei weite Strecken zu Fuß zurücklegend, auf der
Suche nach Situationen und Orten jenseits des Bekannten und tausendfach
geschilderten.


Wie die in den so unterschiedlichen Metropolen der Welt entstandenen Bilder
bezeugen, ziehen besonders Theater und Kinopaläste den Fotografen magisch
an. Er lenkt unseren Blick aber auch in verlassene Klinikgebäude und Büros,
Sporthallen und Treffpunkte abendlicher Aktivitäten und in die meist
verlassenen Straßen der Städte. Meist sind es Orte, an denen sich Menschen
versammeln, aufgenommen in einem Moment ihrer Abwesenheit. Im
pulsierenden Mumbai allerdings hat Gieraths die Menschen nicht immer
fernhalten können, und sie schließlich als eilige Passanten oder in einander
zugewandten Gruppen im Bild akzeptiert. Dabei hat er allerdings für die
Aufnahme immer den Moment abgewartet, in dem sie sich den Strukturen der
Gebäude und Straßen unterordnen. Gieraths Bilder zeigen Orte, deren große
Zeit abgelaufen ist, die Zeugnis ablegen von großen Veränderungen: vom
Umbau und der Modernisierung der Megastädte, von den gesellschaftlichen
Umwälzungen und der Wandlung städtischen Strukturen.


Die Bilder der verlassenen Kinosäle etwa offenbaren die stolze Architektur der
ausgehenden Kolonialmacht Großbritannien. Und sie legen eine Spur zur
Bedeutung des Mediums in einer Stadt mit mehr als 200 Lichtspielsälen und
den kommerziell erfolgreichen Studios der Traumfabrik Bollywood. Anders als
die hunderten Augenpaare der Kinobesucher, die nun abwesend sind, richtet
sich der Blick des Fotografen nicht auf die Projektionsfläche der Illusionen,
sondern auf die leeren Stuhlreihen, auf die einzigartige architektonische
Ausgestaltung des Saales und sein stolzes Standhalten gegen den sichtbaren
Verfall. Die Entscheidung für den einen besonderen Ausschnitt ist auch die
Entscheidung für eine Gesamtstimmung des Bildes, in dem das Zusammenspiel
von Formen und Farben, verstärkt durch das Licht, malerische Qualität
erreicht. Gieraths nutzt ausschließlich vorgefundene Lichtquellen, seien es
Fenster, durch die das Licht des Tages einfällt, seien es verdeckte Leuchtkörper
wie im großen Saal des Naaz-Kinos oder die den Raum nur mühsam
erhellenden bunten Lämpchen einer Lichterkette im Projektionsraum.


Auch in den im Außenraum aufgenommen Bildern spielt das Licht eine
entscheidende Rolle, wenn zum Beispiel die Schatten umliegender Schilder
oder Leitungen eine einzigartige Zeichnung auf die Fassade eines Hauses
legen. Nicht nur Licht und Schatten, auch die Spuren des Verfalls hinterlassen
Spuren auf den Flächen der Fassaden und Mauern, die wie Malerei erscheinen.
So zeichnen die Relikte längst verfallener, vielleicht abgeflämmter Plakate eine
querliegende, durchbrochene Form auf den groben blauen Putz einer frontal
aufgenommenen Mauer. Aus dem Zusammenklang mit den ebenfalls
bildparallel gesetzten Streifen von Straße und Bürgersteig resultiert eine
strenge Komposition, deren seltsame Farbigkeit die Phantasie in Gang setzt:
Was war hier sichtbar? Wie verschwand es? An welchem Ort befinden wir
uns? Schon Brassaï, der in den 1930er Jahren mit seinen Bildern des
nächtlichen Paris berühmt wurde, wusste um die Ausdruckskraft solcher
Mauern, wenn er schrieb: „Ich habe festgestellt, dass man anstelle der
Menschen selbst sehr gut ihr Milieu fotografieren kann; das ist manchmal
sogar ausdrucksstärker; eine Türe, das Fenster eines Hauses und auch die
Mauer einer Großstadt sind bezeichnend....“1 Mauern sind nicht nur
bezeichnend, sie zeugen immer auch – so hat es der Maler Antoni Tapiès 1969
formuliert – vom Lauf der Zeit.2


Bildhaft erfasst Christian Gieraths die Wirklichkeit der von ihm aufgefundenen
Orte. Dabei scheinen ihn Schnittstellen und Übergänge in besonderem Maße zu
interessieren: im Saal II des Naaz Kinos fokussiert er den Blick auf den
geschwungenen Gang, der die Sitzreihen des Publikums von der Bühne
unterhalb der Projektionsfläche des Films trennt und der in den geschwungenen
Ausformungen der Wandgestaltung ein Echo findet; im Foyer desselben
Lichtspielhauses erfasst er die Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen
Erwartung und Erfüllung; die Fassade eines gewaltigen Wohnblocks mit ihren
von den eingelassenen Öffnungen, von Licht, Pflanzen oder Plakaten
geschriebenen Strukturen zeigt er als durchlässige Membran zwischen Innen-
und Außenraum.


Mit beeindruckender Sicherheit entdeckt Christian Gieraths in den prunkvollen
Sälen historischer Gebäude wie den unspektakulären Fassaden den einen
präzisen Ausschnitt, in dem sich die spannungsvolle Komposition der
Bildelemente und die Lichtführung zu einem gültigen Bild von fast malerischer
Anmutung verdichten. Die Farben, die er in dem verblassenden Anstrich einer
Wand, in den formlosen Müllbergen und dem Zusammenklang der bunten
Lämpchen vor einer dunklen Wand festzuhalten vermag, lassen sich in ihrer
Wertigkeit oft kaum benennen. Auch wenn sie ursächlich mit dem
fotografierten Objekt verbunden sind, im Bild verschmelzen sie zu einer
einzigartigen Stimmung, in der zugleich eine nicht in Worte zu fassende
Erinnerung an den Ort mitzuschwingen scheint. Angesichts der Schönheit
dieser Bilder lässt sich die Hölle vergessen, aus der sie stammen.


Die Erfindung der Fotografie, mit deren Hilfe der Reisende Dinge ablichten
kann, die fest mit einem Ort verbunden sind, hat Bildersammlungen von
Landschaften, Baudenkmälern und Menschen erst möglich werden lassen.
1909 rief ein Bankier aus Paris anlässlich einer Reise nach China ein
ehrgeiziges Projekt ins Leben. Nicht weniger als ein „Archiv des Planeten“
wollte Albert Kahn realisieren und verfolgte die „Vision einer lückenlosen
Fotografie aller Länder, Sitten und Völker, deren Verschwinden nur eine Frage
der Zeit sei“. In seinem Auftrag arbeiteten Fotografen und Filmemacher rund
um die Welt an diesem utopischen Projekt, das der Verständigung der
Menschen dienen sollte. Es blieb, trotz tausender erhaltener Autochrome und
hunderttausender Meter Film, ein Fragment. 80 Jahre später gibt es wohl nur
noch wenige Orte, die dem Objektiv einer Kamera entgangen sind. Das
Sammeln fotografischer Bilder unter thematischen, formalen oder inhaltlichen
Gesichtspunkten hat seither die Arbeit vieler Künstler und Fotografen – und
später tausender Hobbyfotografen – beherrscht.


Wenn heute ein Fotograf, der sich als Künstler versteht, die Orte der Welt als
Quelle seiner Bilder nutzt, muss es um andere Dinge gehen als die reine
Dokumentation. Vielmehr gilt es, gültige Bilder zu finden jenseits der
eingetretenen Pfade der kommerziellen Reisefotografen und der Touristen.
Christian Gieraths Bilder evozieren im geografisch letztlich nicht
lokalisierbaren, im Ausschnitthaften, die vermeintlichen Paradiese vergangener
Zeiten und verklammern sie mit dem Jetzt der Gegenwart. Momente des
Umbruchs und der Veränderung gerinnen zu Zeugnissen der Erinnerung, in
denen Schönheit und Verfall, Vergangenheit und Gegenwart, die großen
Strukturen und die Fülle der Details, Licht und Farbe in fotografierten Bildern
zusammenfallen, die unser reflektierendes Sehen in höchstem Maße aktivieren.

Maria Müller-Schareck

 

 

1
Brassai. Notes et propos sur la Photographie. L’album de l’exposition, Paris 2000, S. 34.
2
Antoni Tapiès: „Die Mauer als Ausdrucksmittel“ (1969), zit. nach ders.: Die Praxis der
Kunst, Sankt Gallen 1976, S. 134ff.