Christian Gieraths

 

 

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Petra Lindner
Eine Reise nach Sotchi

Meine Bemerkungen sind rein ästhetischer Natur, sie geben weder eine technische Analyse des photographischen Ansatzes von Christian Gieraths wider noch eine eingehende Interpretation photographietheoretischer Konzepte. Es handelt sich dabei um mein Augenmerk, um meine Begeisterung für die in diesem Band präsentierten Bilder, um meine Einladung an Sie, mit mir nach Sotchi zu reisen – Christian Gieraths Sotchi Royal.
Als ich die Photos zum ersten Mal sah, kam mir sofort das Kino in den Sinn. Seine Bilder haben Lynch-Qualitäten. Ich meine damit die Filme des amerikanischen Regisseurs David Lynch – ein Meister der Inszenierung, der Erzeugung irritierender Ästhetik – undeutbar – ein Spieler. Christian Gieraths Photographie beherbergt diese ästhetische Intensität auch ohne Handlung und Bewegung.
Das Resultat ist in beiden Fällen antirealistisch – nicht als Programmatik sondern als Ergebnis der Inszenierung. Sotchi als Nicht-Ort. Sie haben mittlerweile vielleicht nachgelesen, wo und was Sotchi ist. Ein Kurort und Baderefugium am Schwarzen Meer in Russland. Die architektonische Kulisse zur sozialistischen Muße wurde Sotchi, nachdem es bereits durch sein subtropisches Klima inmitten eines Naturparks ein großes Heilbad im Zarenreich gewesen war.
Die großen Architekten der Sowjetunion aber machten es erst auf Einladung zu ihrer Spielwiese nach Disneyland-Programm, befrachtet mit den ideologischen Inhalten für eine wahre sozialistisch-kommunistische Rekreation des Volkspotenzials.
150 Kilometer lang erstreckt sich dieses Architekturtheater und wurde und wird bis heute als Ort für Auserwählte, als irdisches Paradies erlebt und ersehnt, auch wenn sich seine eigenwillige Schönheit im Zuge einer erpressten Anpassung an globale Veränderungen und Ansprüche im touristischen Bereich langsam aufzulösen beginnt.
Christian Gieraths Sotchi erwartet uns hier mit seiner Unbarmherzigkeit im Design. Die 70er Jahre Star Trek Ästhetik einer Bowling Bahn, die wie himmlische Tellerminen daherkommenden Deckenlampen, die auf mögliche Massen vor einem Rednerpult und übergroßen Lautsprechern warten. Die liebevollen Ensembles von Teppichen, Photos mit glücklichen Menschen und künstlichen Blumen zur Inszenierung von Öffentlichkeit als Refugium für das private Glück.
Christian Gieraths zeigt Räume, die uns nicht fragen lassen, ob sie so wirklich existieren: der polierte „antiquarische“ Schreibtisch auf dem zerfetzten Teppich, die kaleidoskopische Farbpalette des Mobiliars neben einem dem Comic entliehenen Warnschild für den Ruf der Feuerwehr und ein blaues Plastiktelefon.
Welche Szenen haben sich hier abgespielt? Welche Empfänge und lächelnden Informationen für selige Aufenthalte wurden hier geboten? Gieraths Bilder sind vollkommen ruhig, aktionslos, ohne Menschen und geben uns doch alles, was wir brauchen, um darin zu leben.
Ein anderer Film war mir beim betrachten in den Sinn gekommen: Viscontis „Tod in Venedig“. Gieraths Sotchi als kommunistische Kulisse für die Lieb- und Leidenschaften eines russischen Gustav von Aschenbach, der hier nicht im weißen Leinenanzug und breitkrempigen Hut emotionale Desaster erfährt, sondern im Polyesterhemd mit meanderndem Muster zwischen griechischen Säulen wandelt, um sich dann auf die Betonsonnenplattform auf ein pinkfarbenes Handtuch zu legen.
Gieraths Bilder haben einen katalysatorischen Effekt, weil sie uns in ihrer Klarheit und Offenheit einladen. Seine Sensibilität für die Faszination des Halbschattens als Spielraum für den Betrachter, die Kühle und Intimität von Räumen und Eingängen neben der Rauschhaftigkeit eines gleißenden Weiß oder all der Farben, die Gieraths bis zur Dekadenz treibt. Immer wieder ein rauschendes Rot auf Teppichen und Vorhängen, das Leidenschaft verspricht. Sein Spiel mit Farbkontrasten, mit diesem Rauschhaften neben der klaren Konstruktion des Bildes.
Gieraths Photographie ist auf der Höhe der zeitgenössischen Visualisierung und Photoästhetik. Seine Kunst ist emotionale, oft irreale Rezeption seiner Welt. Eine Distanz zum Alltäglichen lässt in seinen Augen Orte entstehen, die, ob sie ein weit entferntes Sotchi zeigen oder den Münsteraner Send, als Versprechen auf Entlastung, auf Rausch, auf Ruhe in unser Auge gelegt werden.
Einen vollkommen anderen Aspekt möchte ich noch ansprechen, der eher kulturwissenschaftlich daher kommt: die Serie. Größe und Wiederholung als Zeichen von Macht und Reichtum kennen wir aus vielen Kontexten. Auch in Gieraths Bildern finden wir immer wieder Reihen von Stühlen, von geordneten Gardinenfalten, von Badeliegen. Die Masse, die Reihe, die Serie. Worte, die so unmittelbar mit der Theorie einer kommunistischen Ideologie verbunden sind wie mit der zeitgenössischen westlichen Popkultur. Alles, was man aufreihen kann, steht gereiht: Personen, Stühle, Säulen. Das Versprechen der Ordnung, des Wohlstands und des immerwährenden Bekannten.
Christian Gieraths aber deckt diese Inszenierung auf vollkommen anti-ideologischer Ebene nur als ästhetische Kategorie auf. Das Serielle, die Wiederholung als Struktur, als ästhetisches Programm: im Bild des Schwimmbeckens noch einmal gespiegelt, von Gieraths provoziert als Muster wie auf einem Kleid.
Die Affinität eines jungen Photographen jenseits aller politischen und auch kunstideologischen Programme zur Struktur des Seriellen, zum Rausch der Farben und zur Gleichgültigkeit zwischen Realität und Virtualität.
Sotchi Royal existiert nur hier in diesem Band und auf dem Photopapier der Originale. Es ist Gieraths Sotchi für uns, die anderen 100 Tausend Sotchis seit dem Bestehen des Ortes, werden in anderen Augen und Erinnerungen ausgestellt.