Christian Gieraths

 

 

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Karl Heinrich Delschen
Exposé zu den Fotografien von Christian Gieraths
2000- 2005

Internet, digitale Revolution, Globalisierung – in Lärm, Spektakel und Geschwindigkeit dieser Umwälzungen ist auch die Fotografie einbezogen und mächtig unter Druck geraten. Myriaden von Bildern in weltweitem schnellem Umlauf produzieren eine inflationäre Bilderflut, die bewirkt, daß sich der Kampf um Aufmerksamkeit stets neu entfacht.
In Musik, Mode, Touristik und Werbung pusht die Fotografie mit Hilfe neuester Software-Technologie Produkte, schürt Marketingkampagnen, kreiert Stars und Trends. Den Wünschen der Marketingbranche und der Unterhaltungsindustrie gemäß schafft sie makellose, perfekte Bildwelten oder kippt auf der Suche nach potentiellen Konsumenten ins Grelle, Schrille, spielt mit Appeals bis hin zum Trashigen und Pornographischen, generiert Remixe und neue ästhetische Crossover. Nicht nur die künstlerischen Gattungsgrenzen zwischen Film und Foto, Kunst und Design, sondern auch die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz verwischen sich, Starfotografen der einen wie der anderen Seite nutzen beide Kanäle für ihre Strategien.
Traditionelles bröckelt und verschwindet vielleicht bald ganz, das Medium erfindet sich gegenwärtig komplett neu.
Die Bildwelten des Christian Gieraths scheinen von solchen hektischen Umbrüchen unberührt und unbeeindruckt. Sie kommen unspektakulär und still daher, zeigen unbedeutende, fast immer menschenleere Orte, Ansichten von Innenräumen, Straßen, Städten, deklinieren eine scheinbar fade Litanei der Hospital- und Hotelflure, der Theaterräume, der Kinofoyers und Frisörsalons, der Kantinen, Sport- und Konzerthallen, der Schwimmbäder, Hausfassaden, der Architekturen von Parkhäusern, Wohnblöcken, Autobahnbrücken.
Die Fotografien ermöglichen auf Grund ihrer Offenheit eine ruhige, fast kontemplative Anschauung, sie trumpfen nicht mit Bedeutung auf, sondern beeindrucken durch eine bestechende Indifferenz, die sich indes als kalkuliert erweist. In diesen klaren Konzentraten einer fotografischen Distanznahme waltet eine coole visuelle Ökonomie, die das Resultat eines ausgereiften, aber nicht starren bildnerischen Konzeptes ist.
Als Schüler von Ulrich Erben und Thomas Ruff weiß Gieraths malerische Sensibilität und Sensualität mit den Brutalismen fotografischer Präzision zu verbinden.
Der Prozeß einer durch das Kameraauge erzeugten Realbeobachtung mitsamt seinen unvermeidlich transportierten Fremdheitsaspekten wird in eine künstlerische Praxis des Ins-Werk-Setzens, das sich aus einem komplexen, aktiv-imaginativen Bildgedächtnis speist, so eingelagert, daß sich beide fast unmerklich durchdringen. Ein diskreter, achtsamer Geist, der sich auch aufs Trennen und Unterscheiden versteht, ist hier am Werk. Die Bilder: elegant, subtil, nicht zu Tode formalisiert, hintergründig aufgeladen durch Anklänge und Korrespondenzen, man möchte sagen, weil ein deutsches Wort fehlt, sophisticated.
Sotchi, Bukarest, Kapstadt, Havanna, Tokio, Sarajevo – in je eigener Weise dokumentieren die Serien von Fotografien Gieraths’ Arbeit mit den Gegebenheiten vor Ort. Hierbei fällt auf, daß er sich der seriellen Vorgehensweise nicht zwanghaft bedient, sondern sich immer wieder davon löst und das Einzelbild gewichtet. Es entstehen keine Bilder für Reiseprospekte Er nähert sich von den normalen, durchschnittlichen Orten her, erprobt hier seine „Andersempfindlichkeit“, die die in dem Vorgefundenen spezifisch „archivierte“ Zeichenwelt in seine reflektierten Bildwelten transferiert. So läßt zum Beispiel eine Fotografie wie „Bowlingclub“ aus der Kapstadt-Serie Anklänge an Edward Hopper und David Lynch ineinanderfließen und liefert so als raffinierte Einspielung eines potentiellen ästhetischen Mehrwerts eine Konkretion von emotionalen und atmosphärischen Stimmungswerten.
In ihrer Reaktion auf Gegenständliches zeigen die Fotografien einen Sinn für Inszenierung, Reduktion und ein konstruktives Gespür für eine Aufhebung oder Verkehrung ins Abstrakte.
Das Dokumentarische ist nicht das vorherrschende Interesse. Bildästhetik, Autonomisierung des photographischen Bildes stehen im Vordergrund, aber die Referenz auf eine spezifische Wirklichkeit, d. h. spezifisch geschichtete, spezifisch organisierte und ausgerichtete (Historie, Ideologie, Architektur etc.) wird in der Regel nicht gekappt. Weiter gehende Abstraktionsvorgänge werden bisweilen im Zusammenhang mit Formsteuerungen durch Licht und Farbe in Hinsicht auf eine minimalistisch anmutende Reduktion und optische Flächigkeit als ästhetisches Resultat erzeugt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang einer Verwendung des Lichtes nach verschiedenen Härtegraden eine hohe Empfindlichkeit für subtile Farbklänge, eine Sensibilität für Ausdruckswerte der Farbe, für ihre Ausschwingungen ins Atmosphärische, für Verdichtungen und Mischungen ihrer Ausstrahlungsqualitäten.
Der Blick folgt keinem vorgegebenen Szenario, er ist eigensinnig, tastend, geduldig, durchaus ablenkbar, dabei kontrolliert. Wo wir Banalität vermuten, erschließt sich einem einlässigeren Sehen ein Spiel mit Aussparungen, Formalisierungen und präzisen Farbsetzungen, es vermittelt sich auch die Erzeugung vertrackter Rhythmisierungen und irritierender Verrückungen.
Die Bilder scheinen eine Facettierung der besuchten Städte vorzunehmen, aber die einzelnen Facetten streben zur Autonomie, aus ihnen läßt sich der Ort nicht zusammensetzen: Aufgesplitterte Identität, ohne vorausgesetzte Identität, ohne Interesse an Identität.